Folgender Artikel erschien im RUGIA/Rügen-Jahrbuch, Jahrgang 2007
Abdruck hier mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers INSULA RUGIA e. V.
Lietzow. Von der Fähre zum Damm
Gerhard Schramm
Die Vorgeschichte
Am 23. Mai 1869 gab der Landrat von Rügen im Rügenschen Kreis- und Anzeigenblatt bekannt: „Auf der Tour von Bergen nach Lietzow kann von Donnerstag, den 27. Mai 1869 ab die fertige Chaussee resp. Chausseeplanung für sämtlichen Verkehr, einschließlich mit Wagen frei benutzt werden.“ Damit begann ein neues Kapitel nicht nur für Lietzow sondern für ganz Rügen.
Lange Zeit war der Weg von Jasmund und Wittow nach Bergen und der restlichen Insel über die damals sandigen Strecken der Schmalen Heide verlaufen, und man konnte den kürzeren Weg über die nicht ungefährliche Lietzower Fähre nutzen. „de Lisowe, videlicet de taberna et de passagio“ [Von Lietzow, nämlich von dem Krug und von der Fähre] ist erstmals in einer Urkunde von 1314 die Rede (PUB 2918).
Die Lietzower Fähre, wie die Gemarkung auch noch heute in den Kastasterunterlagen genannt wird, wurde in der Vergangenheit auch als „Jasmunder Fähre“ bezeichnet. Mathäus von Norman zählte sie zu den „gemeinen Fähren“, deren Aufgaben nach dem „Wendisch-Rügianischen Landgebrauch“ fest umrissen und die Rechte und Pflichten der Fährleute genau festgelegt waren.
Wenn auch die Ersterwähnung erst aus dem Jahre 1314 stammt, so kann man doch annehmen, dass die Fähre wesentlich älter ist, stellte doch der Weg über die Fähre die kürzeste Verbindung zwischen der Jaromarsburg von Arkona und dem Fürstensitz von Bergen bzw. Garz oder auch nach Ralswiek dar. Leider gibt es darüber kaum Informationen. Die Kirchenbücher von Sagard and Bergen erfassen im Wesentlichen erst die Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg. In diesen Quellen wird der Ort mestens nur kurz „Fehr“ genannt. Dieser Krieg brachte für Rügen, wie für das gesamte Reichsgebiet, einen großen Verlust an Menschen sowie materiellen und ideellen Werten.
In der Schwedischen Matrikel von 1694 werden für die „Kleine Lissower Fähre“ nur zwei Einwohner genannt, der Fährmann und ein Schiffer, beider mit Namen „Woch“. Der richtige Name ist aber nach den Kirchenbühern von Sagard Woithke. Daraus entstand später der Name Wothke. Die Wothkes waren bis zum ersten Drittel des 19. Jahrhunderts die Fährleute in Lietzow.
Gefahren der Fähre
Mit dem beginnenden 19. Jahrhunder gibt es auch eine Reihe von Zeitzeugen, die über die Fähre berichten, so unter anderem Johann Jacob Grümbke in seinen „Streifzügen durch das Rügenland“. Über die Lietzower Fähre schreibt der Bergener Notar Karl Schneider 1823 in seinem „Reisegesellschafter“: „Es ist gefährlich, ohne Leitung des kundigen Fährmanns, die Ueberfahrt, wie wohl bisweilen geschieht, zu wagen, da nur eine schmale und noch dazu krumme Bahn in welcher der Boden überall seicht und fest ist, hindurch führt, diese Bahn aber zu beiden Seiten beträchliche Tiefer hat, denen der Unkundige nur zu leicht zu nahe kommen und ertrinken kann, und schon mancher Trunkne und Tollkühne hat sich, seine Gefährten und Pferde, auf diese Weise ums Leben gebracht.“ Der Verlauf der Furt ist auf dem Messtischblatt der Kgl. Preußischen Landesaufnahme von 1836 zu erkennen. Wie dramatisch das Nichtbeachten der obigen Warnung verlief, zeigt der folgende Vorgang aus dem Jahre 1857: Vor den Augen des Sattlers Kremer aus Sagard ertranken seine 27-jährige Frau Juliane und ihre beiden Söhne Ernst, drei Jahre alt, und der anderthalbjährige Matthias sowie sein 63-jähriger Dienstmann Christian Lancken. Der bedauernswerte Vater konnte nur ein Kind retten. Noch während der Verhandlungen über dieses Unglück passierte ein weniger tragisches Missgeschick. Der Kutschwagen der Baronin von Barnekow aus Ralswiek wurde bei der Durchfahrt bei kräftigem Wellengang ausgehoben, so dass sie mit dem Hinterwagen stehen blieb, der Vorderwagen mit Kutscher und Pferden aber weiterfuhr und die Baronin vom Fährmann gerettet werden musste: Daraufhin wurde die Furt für Fuhrwerke gesperrt.
Chausseebau
Die häufig vertretene Auffassung, dass die Lietzower Fähre nur wenig genutzt wurde, wird widerlegt, wenn man sich den alten Fährweg in der Näselow ansieht. Dort findet man unweit des ehemaligen Fährhakens einen etwa 5m tiefen Hohlweg, ähnlich wie auf der Lietzower Seite, wo der neue Radweg westlich der B96 im ehemaligen Fährweg verlegt wurde. Solche Hohlwege konnten sicherlich nur durch eine intensive Benutzung entstehen.
In der Mitte des 19. Jahrhunderts setzte in Neuvorpommern, den ehemals schwedischen Teil Vorpommerns, ein intensiver Ausbau des Straßennetzes ein. Auch auf Rügen wurden neue Chausseen, z.B. von Altefähr nach Putbus und nach Bergen, gebaut.
Interessierte Kreise, vor allem Bergener Geschäftsleute, forderten einen weiteren Chausseeausbau. Am 7. Dezember 1857 wurde vor dem Magistrat der Stadt Bergen erstmalig über den Bau der Chaussee Bergen-Sagard gesprochen. Im März 1863 kam auch die Chaussee Bergen-Putbus ins Gespräch. Daraus wurde das Projekt Chausseebau-Lauterbach-Sagard. Die Kosten der fertiggestellten Chausseen beliefen sich auf 30-45000 Taler pro Meile (7431,5m).
Die Kaufmanns-Compagnie zu Bergen informierte den Magistrat über Gründe, die für den Chausseebau sprachen, so würde sich der Weg von Sagard nach Bergen von 2 5/8 Meilen über die Schmale Heide auf 1 7/8 Meilen verkürzen. Es würden also ¾ Meilen (ca. 5,6 km) eingespart. Zum anderen müssten Fahrzeuge mit Baumaterial von Jasmund oder per Schiff nach Lietzower Fähre wegen wiedriger Wasserstände oft acht Tage, je sogar drei Wochen an der Fähre warten, was zu Streitigkeiten zwischen Bauunternehmern und Schiffern führe. Es komme sogar bei Unwetter aus westlicher Richtung zum Untergang von Fahrzeugen samt Ladung. Der Dammbau würden den Schiffern an der südlichen Seite der Brücke Schutz bieten. Auch sei es angebracht, Landungsbrücken für Dampfschiffe einzurichten. 1864 brachte der Landrat von Platen die Angelegenheit vor den Kreistag und wie auf die wirtschaftliche Notwendigkeit des Chausseebaus hin. Am 30.10. 1867 meldete das Rügenschen Kreis- und Anzeigenblatt, dass der Kreistag den Bau der oben genannten Chaussee beraten und die Ständische Chausseebau-Commission dafür verantwortlich sein würde. Am 18. Februar meldete das gleiche Blatt, dass die Bauarbeiten begonnen hätten und dass das Betreten der Chausseebaupläne – gemeint ist das Baugelände – bei Strafe verboten sei. Verantwortlich für die Bauplanung und -ausführung war der Königliche Bau meister und Premier-Lieutenant Gustav Meinhoff aus Sagan. Natürlich wurden auch Bedenken gegen den Verlauf der Chaussee angemeldet, z.B. würden Ackerstücke in zwei Teilflächen zerschnitten.
Selbstverständlich war der Chausseebau nicht zuletzt eine Kostenfrage. Von der Regierung wurden nur 8000 Taler pro Meile übernommen. Für die Chausseebauten auf der Insel von einer Gesamtlänge von 7 9/10 Meilen waren die Kosten auf 291 400 Taler veranschlagt, davon 20 000 Taler für den Dammbau. Der Kreis musste 215 250 Taler aufbringen. Zur Deckung dieser Summe wurde eine Anleihe zu 4 ½ Prozent aufgelegt. Im Januar 1868 begannen die Arbeiten in Bergen in der Raddastraße, und schon im Juni wurde die Strecke bis Strüßendorf freigegeben. Senator Lange und Fuhrmann Miethe durften in der Bergener Feldmark Steine werben. Ein Rechtsstreit über die Entnahme von Steinen in Prißvitz in der Gemarkung Buschvitz zog sich bis 1884 hin.
Dammbau
Doch nun zum Dammbau direkt. Baumeister Meinhoff hatte den Dammquerschnitt so berechnet, dass die Dammkrone 28 Fuß, die Böschung zum Kleinen Bodden 32 Fuß, zum Großen Bodden 48 Fuß breit und die Dammhöhe 2 Fuß über dem höchsten bis dahin beobachteten Wasserstand sein sollte. Infolge dieser weitsichtigen Planung blieb der Damm auch bei dem Sturmhochwasser vom 13. November 1872 unbeschädigt. Schließlich wurde 1890/91 die Bahnlinie ohne Dammverbreiterung gebaut. Es blieb sogar Platz für die spätere Straßenverbreiterung und den Radweg.
Ende Januar 1869 wurde der Materialbedarf zur Durchschüttung der Lietzower Fähre ausgeschrieben, u.a. ca. 3000 m² Plastersteine, 15 000 m² gesprengte Feldsteine, 6000 Waldfaschinen und Faschinenpfähle. Der Bedarf an Sand und Kies konnte nur aus dem Dammquerschnitt und der Dammlänge überschlagsweise abgeschätzt werden und dürfte etwa bei 50 000 bis 55 000 m³ gelegen haben. Der Damm selbst hat eine Länge von 700 m, die Anbindung an festen Untergrund beträgt an der Westseite 350 m und an der Ostseite 150 m. Auch über die Entnahmestellen kann man nur auf Grund der Vergleiche von Geländestrukturen der Urmesstischblätter und späteren Messtischblätter Vermutungen anstellen. Die westliche Entnahmestelle war wahrscheinlich der Lissower Berg, der ursprünglich bis an das Ufer des Großen Boddens reichte. Heute findet man dort ein flaches Gelände, wo sich teilweise eine Terrassierung andeutet. Die östliche Entnahmestelle war vermutlich das Gelände östlich des Ortsausgangs von Lietzow, wo ebensfalls Terassen und teilweise starke Böschungen auf eine Störung des natürlichen Geländeprofils hinweisen. Die Entnahme von Boden, Steinen und dergleichen mussten die Grundeigentümer und Gemeinden laut königlicher Kabinettsorder von 1825 entschädigungslos dulden. Der Dammbau verlief trotz der für heutige Verhältnisse einfachen Technik recht schnell, denn bereits nach knapp fünf Monaten Bauzeit wurde er für den Verkehr freigegeben. Die Schüttung erfolgte von beiden Seiten, wobei der Materialtransport wahrscheinlich mit Fuhrwerken erfolgte.
Der Lehrer Wilhelm Wewetzer schrieb in der Lietzower Schulchronik, dass mit der Fertigstellung des Dammes der Ruf: Fährmann hol över!“ für immer verstummt sei. Hier möchte ich zu bedenken geben, dass bei einer Entfernung von 700m, vielleicht auch noch bei östlichen Winden, der Ruf kaum den Fährmann erreicht haben dürfte. Sicher muss es andere Signale gegeben haben. Bei Dunkelheit vielleicht Feuerzeichen, bei Tage Flagen- oder Rauchzeichen, Zeitzeugen berichten darüber nichts.
Der Baumeister
An dieser Stelle soll nochmals die Leistung des Baumeisters Gustav Meinhoff gewürdigt werden. Er war nicht nur ein vorausschauender Planer, sondern auch ein strenger Vorgesetzter, der die Bauaufsicht ohne Ansehen der betroffenen Personen durchsetzte. Als zu Beginn der Bauarbeiten einige Bauarbeiter nach Feierabend mit Bergener Gastwirten in Streit gerieten, verbot Herr Meinhoff ihnen kurzerhand das Betreten dieser Lokale bei Strafe der Entlassung. Auch bei Verstößen gegen das Verbot, das Baugelände zu betreten, erstattete er Anzeige, ob es sich nun um den Hütejungen eines Bauern oder einen Senator der Stadt Bergen handelte. Leider verstarb Meinhoff nur ein Vierteljahr nach der Freigabe des Dammes in Bergen an Typhus. Er wurde am 30. August 1869 mit Läuten der großen Glocken in Bergen beigesetzt.
Folgen
Abschließend sollen einige Folgen des Dammbaus erwähnt werden. Neben der Verkürzung des Weges nach Sagard und darüber hinaus bewirkte der Damm eine Behinderung des Wasseraustausches mit dem Großen Bodden, was zu einer allmählichen Aussüßung des Kleinen Boddens und damit auch zu einer Veränderung des Fischbestandes führte. Der Wasserstand wurde in der ersten Zeit durch ein Nadelwehr geregelt. Dabei werden senkrechte Planken durch den hohen Druck gegen waagerechte Balken gedrückt. Das Absperren musste jeweils neu erfolgen, eine schwere und gefährliche Arbeit. Der Lietzower Fischer Lockenvitz verlor dabei sein Leben. Dabei bewirkte der Bau auch einen Schutz des östlich gelegenen Geländes vor Hochwasser. Noch in der Schwedischen Matrikel wurde festgehalten, dass die Ortslage Lietzow mehrfach im Jahr überflutete. Das galt auch für die Niederungen an der Wostewitzer Seen, an der Schmalen Heide und am Südufer des Kleinen Boddens. So wurde erst nach der Errichtung des Damms die Bebauung des Spitzen Ortes in Lietzow möglich. Aber auch auf der Außenseite des Dammes wirkt er als Hindernis für den Sedimenttransport. So wird das Scharr immer flacher. Bei anhaltenden Ostwinden liegen weite Gebiete trocken. Für die Schiffahrt musste mehrfach gebaggert werden, um die langjährige Verbindung nach Hiddensee offen zu halten.
Quellen und Literatur
Archiv der Stadt Bergen auf Rügen: Bestand Bau der Kunststraßen auf Rügen
Die Chronik der Schule Lietzow [ungedruckt, um 1940]
Kirchenbücher von St. Michael in Sagard und St. Marien in Bergen auf Rügen
Messtischblatt der Kgl. Preußischen Landesaufnahme von 1836 (Preßisches Urmesstischblatt, Bd. V, Bl. 1 u. 2)
Pommersches Urkundenbuch (PUB), V. Bd. (1311‒1320), bearb. v. Otto Heinemann, Stettin 1905
Rügensches Kreis- und Anzeigenblatt (1867‒1869)
Die schwedische Landesaufnahme von Vorpommern 1692‒1709, Karten und Texte, Ortsbeschreibungen, Bd. 2: Insel Rügen, Teil 1: Halbinsel Jasmund, Greifswald 1995/96
Rudolph, Wolfgang: Die Insel der Schiffer, Rostock 1962
Schneider, Karl: Der Reisegesellschafter durch Rügen, Berlin 1823